Anette Hoffmann
(University of Amsterdam)
Ein unsichtbares Denkmal:
Für eine Anerkennung des Monumentcharakters
eines Otjiherero Praise Poems (Omutando)
für die Old Location in Windhoek
BAB Working Paper No 5: 2006
ISSN 1422-8769 © The author © Basler Afrika Bibliographien
Presented at the Basler Afrika Bibliographien
13 June 2006
Basler Afrika Bibliographien Klosterberg 23 CH 4051 Basel Switzerland
Tel. 061 228 93 33 Fax 061 228 93 30 Email bab@bluewin.ch
BAB Working Papers
(ISSN No 1422-8769)
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Un point d'eau, sa population. Territoire, mémoire et identité
autour de Pella, Afrique du Sud (18e-20e s.)
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Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreichs.
Koloniale Phantasie- und Realgeschichte im Verein
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The Enemy Within, Gradations of Whiteness in German
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The Ovambo Reserve Otjeru (1911-1938) The Story of an
African Community in Central Namibia
Working Paper No 2: 2006 Ute Dieckmann
Hai||om zwischen Buschmannplage und San Aktivismus:
Koloniale Repräsentationen und postkoloniale Aneignung von
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Working Paper No 3: 2006 Lorena Rizzo
The Elephant Shooting Inconsistencies of Colonial Law and
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and 1930s
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1
Ein unsichtbares Denkmal:
Für eine Anerkennung des Monumentcharakters
eines Otjiherero Praise Poems (Omutando)
für die Old Location in Windhoek
Anette Hoffmann
(University of Amsterdam)
Instead of singing of presidents, people sang of the assassinations of presidents. What
counted were the ruptures in the continuity of history. [This is] because people then
loved drama and their songs were like little dramas, always remaining vague and myste-
rious; they never told the entire story. With the amazing effect that [these songs] still,
even today, are fascinating. One wants to explore what is missing. The imagination is
challenged when listening to these songs (Greil Marcus).1
Thus, if the subaltern does not speak as such, it is only within the logics and codes of
the dominant discourse (Hitchcock 1993: 18).
Einleitung
Mein Vortrag beschäftigt sich mit der vermeintlichen Abwesenheit eines Monumentes für die
Old Location in Windhoek. Das heisst, es soll diskutiert werden, inwieweit tatsächlich von der
viel beklagten Abwesenheit eines solchen Monumentes gesprochen werden kann.
Die westliche Welt ist an bildliches Erinnern gewöhnt: Monumente sind im allgemeinen
gut sichtbare Bauwerke, oder Skulpturen im öffentlichen Raum unserer Städte. Wenn die Erinne-
rungskultur von nicht-europäischen Kulturen betrachtet und ernst genommen werden soll, dann
muss unter Umständen von der Sichtbarkeit der Monumente, oder von einer visuellen Erinne-
rungskultur Abstand eingenommen werden.
Dem Konzept des Monumentes liegt das lateinische Verb monere zugrunde. Monere um-
greift soziale Aktivitäten wie erinnern, betrauern, aber auch warnen und mahnen. Die Anwesen-
heit eines visuellen Objektes, das zu diesen Aktivitäten anregt ist im Begriff monere selbst nicht
angelegt. Die selbstverständliche Annahme der visuellen Wahrnehmbarkeit eines Monumentes
geht von der Unvermeidlichkeit der Bilder innerhalb der westlichen Welt aus, in der eine Allge-
genwärtigkeit von Bildmedien und Diskursen zum täglichen Leben gehört.
1 Aus einem Interview in Die Tageszeitung (13. 06. 2005: 15).
Ausgehend von einer Gesellschaft, der der OvaHerero in Namibia, die in den 60er Jahren
nicht mehr als an-ikonisch bezeichnet werden kann, deren kulturelle Produktionen aber nicht im
wesentlichen auf Bildliches basieren, muss sich der Blickwinkel ändern, um Monumente wahr-
nehmen zu können. Tatsächlich müssen wir von einem Blickwinkel, oder einer kulturell veran-
kerten Sichtweise zu einer Hörweise gelangen, um kulturell spezifische Artikulationen des Erin-
nerns und Mahnens als äquivalent zu Monumenten begreifen zu können.
Ich möchte einführend einige Gedanken zur An-ikonizität (also nicht-Bildlichkeit) for-
mulieren. In seiner Betrachtung sogenannter an-ikonischer Gesellschaften, also Gesellschaften
die keine Bilder von Menschen, Tieren oder Gottheiten produzierten, weist Fritz Kramer darauf
hin, dass der Umstand des Nicht-Vorhandenseins von Bildern oder Skulpturen nicht auf techni-
sches Unvermögen hinweist (2001: 17). Im Bezug auf die Herero Gesellschaft in Namibia kann
nicht von kompletter Nicht-Bildlichkeit gesprochen werden. Tatsächlich geschah die Aneignung
der Photographie bereits im 19. Jhd; es wurden Portraits der gesellschaftlichen Elite hergestellt
(siehe Silvester 1998 und Wallace 1998). Wir haben es auch nicht mit einer Gesellschaft zu tun,
die sich einem Bilderverbot gebeugt hätte. Tatsächlich erscheint die Abwesenheit von Bildern
also beispielsweise traditioneller Skulptur oder Malerei - nur aus westlicher Sicht als Mangel. Da-
bei wird eine an materiellen Objekten orientierte Erinnerungskultur als Norm konstituiert, von
der aus nicht an materielle Objekte gekoppeltes Erinnern als lückenhaft begriffen wird. Nicht-
sichtbare, immaterielle, kulturelle Produktionen, wie omitandu, also oral überlieferte Texte, die als
ausserpersönliche Referenzpunkte und Plattformen des kollektiven Erinnerns operieren, werden
dementsprechend oftmals übersehen, oder besser, aufgrund ihrer nicht-Sichtbarkeit, wie in die-
sem Falle, nicht wahrgenommen.
Eine die Vergangenheit interpretierende, charakterisierende, diskursive und eben auch
konservierende (erinnernde) Aneignung der Welt ist aber keineswegs notwendigerweise visuell.
Anstelle des Abbildens oder Aneignens durch Bilder steht hier die kulturelle Aneignung der Welt
durch Rede, performance und Dichtkunst, die bis heute nicht vollständig durch Bildmedien oder
geschriebene Texte ersetzt wurde.
Landschaft
Wie diese Aneignung durch Rede und Dichtung geschieht, möchte ich kurz am Beispiel von
Landschaft skizzieren, das uns später zum konkreten Fall des Old Location Praise Poems führen
wird. Wenn wir (in der Westlichen Welt) Landschaft sagen, tauchen Bilder auf: Ensembles mit
Flüssen, Seen, Wäldern. Photographierbares, Postkarten, aber eben auch Gemaltes. Von der
2
Landschaftsmalerei des 16ten Jahrhunderts, die die europäische Konzeption und Perzeption von
Landschaft prägt, bewegen wir uns zum Panoramaphoto und Naturfilm, wir wechseln die Me-
dien, aber nicht die Ebene des Bildlichen.
Ovaherero, eine der kulturellen und sprachlichen Gemeinschaften in Namibia teilen eine
mündlich überlieferte Textkultur, in der die kulturelle Produktion von Landschaft von grosser
Bedeutung ist. Jeder Ort, jede Grabstätte, aber auch Brunnen, Quellen, Siedlungsgebiete sind in
sogenannten Preisliedern charakterisiert. Hier ist einerseits die textliche Markierung von Dauer-
nutzungsrechten von Bedeutung. Omitandu (singular omutandu), oder Preislieder sind dabei die
poetischen Träger der Nutzungsstruktur. In vorkolonialer Zeit wurde die Nutzung des Landes in
diesen Preisliedern festgelegt. Während also ein männliches Familienoberhaupt zuerst die
Nutzungsrechte durch Erstbesiedlung eines Gebietes erreicht hatte, wurden die Nutzungsrechte
der Nachkommen nach dem Tod dieses Familienoberhauptes durch ein Preislied festgelegt.
Durch den zum Anlass des Todes eines Mitgliedes der Gemeinschaft komponierten Text, der die
Person des Verstorbenen charakterisiert, und gleichzeitig eine Beziehung des Verstorbenen und
dessen Familie zum Land artikuliert und festschreibt, wird das Gebiet zur sozialen Landschaft,
deren Identität untrennbar mit der der Person verbunden ist. Das bedeutet also: würde man
einen Anfang aller Preislieder festmachen können, so müsste dieses mit dem Tod einer Person im
Zusammenhang stehen. Aus diesem Preislied für den ersten Toten der Gegend würde dann das
Preislied für den Ort generiert. Die erste Zeile heute bekannter Preislieder beginnt entsprechend
zumeist mit der Nennung eines Rinderhalters (in manchen Fällen aber auch mit den Schafen, die
für die Bestattungsfestivitäten einer verstorbene Frau geschlachtet wurden), und dessen Vieh.
Innerhalb der omitandu entsteht so eine Verbindung von Genealogien und Territorien, mit der das
gesamte Siedlungsgebiet der Ovaherero ausgefüllt und vernetzt wird. Die Vernetzung wird durch
die Verbindung einzelner Preislieder miteinander erreicht, zu der ich am Beispiel der Old Loca-
tion noch zurückkommen werde. Gleichzeitig wird eine soziale Geschichte der Orte artikuliert,
die die Orte zusammen mit ihren Bewohnern identifizierbar macht. In vorkolonialer Zeit waren
omitandu rechtsgültig; mit dem Verweis auf diese Texte, das heisst, ihrer Rezitation konnten Be-
sitzansprüche geltend gemacht werden (siehe hierzu Henrichsen 1999 und 2001). Omitandu müs-
sen demnach als System sozialer und ökonomischer Signifizierung gesehen werden. Die Wirk-
samkeit dieser Texte beruht auf der des performativen Sprechaktes, der tut was er sagt (im
Sinne von ich schwöre, ich verurteile den Angeklagten etc.).
Meine Analyse der sozialen Effektivität der performativen Produktion von Landschaft
durch Akte des Benennens und Inbesitznehmens mit omitandu bezieht sich auf Judith Butlers
Theorie der performativen Sprechakte (1993: 13). Sie schreibt:
3
The illocutionary speech act is itself the deed that it effects (...) as utterances, they work
to the extent that they are given the form of rituals, that is, repeated in time and, hence,
maintain a sphere of operation that is not restricted to the moment of utterance itself
(...) The illocutionary speech act performs its deed at the moment of its utterance, and
yet to the extent that this moment is ritualised, it is never a single moment. The mo-
ment in ritual is condensed historicity, it exceeds itself in past and future directions, an
effect of prior and future invocations that constitute and escape the instance of the
utterance (1997: 3).
Ohne meine ausführliche Analyse der Wirksamkeit dieser ritualisierten Sprechakte wiederholen
zu wollen (siehe Hoffmann 2005), möchte ich hier nur darauf hinweisen, dass neben der Institu-
tionalisierung, das heisst, einer auf gesellschaftlichen Konsens beruhenden Norm dieser
Sprechakte, Wiederholung und Wiederholbarkeit eine bedeutende Rolle spielen. Performative
Sprechakte beziehen ihre Wirksamkeit durch das Zusammenspiel der Wiederholung zusammen
mit dem Rekurs auf gesellschaftliche Normen, die sie autorisiert.: Performativity is thus not a
singular act for it is always a reiteration of a norm or a set of norms (Butler 1993: 12). Weil per-
formative Sprechakte sich auf eine Norm beziehen und gleichzeitig diese Norm konstituieren,
liegt die Möglichkeit der Subversion in der immerwährenden Unvollständigkeit des so
konstruierten. In anderen Worten: nur die Wiederholung und Wiederholbarkeit der performa-
tiven Sprechakte, im Zusammenspiel mit einem System gesellschaftlicher Normen, das diese veri-
fiziert, garantiert die Fortdauer der sozialen Landschaft.
Als Akt des Zitierens muss daher die performance von omitandu und die Praxis des Be-
nennens der Orte wiederholbar, verständlich und zu einem gewissen Grad öffentlich sein, um
ihre Wirksamkeit zu erreichen. Das bedeutet, dass die soziale Landschaft, die auf oral poetry und
der Rezitation von omitandu beruht veränderlich ist. In dieser Veränderlichkeit liegt die Möglich-
keit der Akkumulation historischer Ereignisse, durch die die so konstituierte soziale Landschaft
ihre historische Dichte und Bedeutung erhält.
Für ein Verständnis der ästhetischen Aspekte ist die Verbindung von Identität, Ge-
schichte und Landschaft von Bedeutung. Ein Ort erlangt Bedeutung und damit Schönheit durch
seine soziale Geschichte zusammen mit seiner Situiertheit im Netzwerk der oralen Texte. Perso-
nen und Orte beziehen ihre Signifikanz und Spezifizität durch die Preislieder, die Orte und Men-
schen identifizieren. Preislieder artikulieren die historische Dichte, die Verschränkung von Iden-
titäten und Lebensgeschichten mit der Landschaft und verbinden gleichzeitig verschiedenen Orte
und Personen in Akkumulationen von Versen, die jeder für sich auf einzelne historische Bege-
benheiten verweisen.2
2 Das in diesem Vortrag vereinfacht dargestellte Modell der Funktion und Wirksamkeit der praise poetry im Otjihe-
rero beschreibt die Komplexität des Feldes der oral poetry nicht ausführlich. So kann beispielsweise nicht von einem
umfassenden Konsens über die Inhalte der Texte innerhalb der kulturellen Gemeinschaft ausgegangen werden.
4
Ein gutes Beispiel für eine kurze schematische Beschreibung dieser poetischen Akkumu-
lation ist Okahandja. Als bedeutsamer Knotenpunkt der Geschichte der Herero, kommt dem Ort
in der Dichtung eine besondere Stellung zu. Mehrere Versionen des Preisliedes für Okahandja
zirkulieren zur gleichen Zeit und lassen so eine komplexe Charakterisierung des Ortes entstehen.3
In beinahe allen mir bekannten Versionen wurden die Gräber der Ovahona (chiefs) er-
wähnt:
Okahandja: Ooketundu rOvahona.
Okahandja: das ehemalige Zuhause unserer chiefs.
Einzelne Zeilen verweisen dann auf signifikante Ereignisse aus dem Leben des Ortes und seiner
Bewohner. Allerdings werden diese Geschichten nie erzählt vielmehr muss der Zuhörer aus
den Metaphern und kondensierten Anspielungen selbst die Geschichte rekonstruieren können.
Hierzu ist kulturelles Wissen notwendig, dass meist nur innerhalb der Gemeinschaft der otjihe-
rero-sprachigen Bevölkerung vorhanden ist. Entsprechend ist eine Interpretation der dargebote-
nen Texte für Aussenstehende nur möglich, indem die Geschichten hinter den Metaphern oder
Hinweisen erfragt werden.
Ein gutes Beispiel sind die folgenden Zeilen:
Da sind unsere Dornenbäume
Die Dornenbäume von Mujemuas Schafen.
Die Zeilen verweisen auf eine Erbstreitigkeit zwischen den Neffen Mujemuas, die sich beide als
rechtmässige Erben ihres Onkels ansahen. Die Dornenbäume kennzeichnen den Platz in Oka-
handja, wo Maherero Gericht hielt. Im Falle der Erbstreitigkeit soll Maherero die Behandlung des
Streites täglich verschoben haben und liess stattdessen an jedem Abend eines der Schafe des On-
kels schlachten. Nach einigen Tagen beschlossen die Neffen, die ihr Vieh schwinden sahen, den
Streit unter sich zu klären. Hier wird also Maherero als geschickter Herrscher charakterisiert,
ohne dass sein Name genannt wurde. Im Laufe des Preisliedes tauchen allerdings, ebenfalls
chiffriert und kondensiert, Hinweise auf andere Geschichten über Maherero auf, die ihn als grau-
sam und keineswegs überlegt charakterisieren. So wird ein komplexes Bild eines Herrschers
Herero oral poetry ist irreduzibel polyphon, die Inhalte, sowie die Praxis der Interpretation von Geschichte werden
während der performances und innerhalb der Texte permanent verhandelt. Weiterhin stellt oral poetry, trotz ihrer
anhaltenden Bedeutung nicht die einzige identitätsstiftende kulturelle Praxis dieser Gemeinschaften dar (siehe Hoff-
mann 2005).
3 Die hier angegebenen Versionen stammen aus den Aufnahmen Ernst Dammans. Die Erklärungen zu Mujemuas
Schafen aus Jekura Kavaris Arbeit über otjiherero-sprachige praise poetry . Allerdings wurde das omitandu für Oka-
handja auch in Jackson Kaujeuas Popsong My Country verarbeitet (Siehe Damman 1996: 282-284, Kavari 2002:
90, Hoffmann 2005: 2-51)
5
geschaffen, das in der Geschichte Okahandjas verankert ist und durch die Preislieder in seiner
Komplexität und Widersprüchlichkeit bewahrt wird. Weitere Verse erwähnen andere Personen
und Begebenheiten. So wird Okahandja als ein Ort der Gerichtsbarkeit, der Konflikte, des Han-
dels, aber auch als Schauplatz heroischer Kämpfe und historischer Niederlagen porträtiert. Per-
sonen, für deren mobile Lebensgeschichten Okahandja von Bedeutung waren werden zu ver-
schiedenen Zeiten dem Preislied hinzugefügt, bzw. es werden Teile des Preisliedes für Okahandja
den Preisliedern für bestimmte Personen hinzugefügt. Hierdurch entsteht ein Netzwerk von
Preisliedern das die Basis für die Identitäten von Personen und Orten bildet, die auf diese Weise
untrennbar miteinander verbunden werden. Die Schönheit der Orte entsteht dabei zum Teil
durch das exegetische Spiel des Dekodierens oder des Vervollständigens der Verse, die jedem
einzelnen Zuhörer eine eigene Geschichte erlaubt, allerdings abhängig von seinem oder ihrem
kulturellen Wissen. Das komplexe, oftmals widersprüchliche Bild einer Person oder eines Ortes
im jeweiligen Preislied entsteht dabei aus einem Spiel mit Licht und Schatten der Charaktere. Je
grösser die Dichte der Anspielungen ist, desto profunder wird die ästhetische Erfahrung und
desto vielschichtiger und bedeutsamer werden die Orte (oder Personen).
Von der Einführung in die kunstvolle Form nicht-bildlicher Charakterisierung, Aneig-
nung und Ästhetisierung von Landschaft, möchte ich zum konkreten Fallbeispiel überleiten. Da
es um das Preislied für die Old Location gehen wird, werde ich jetzt die Ereignisse von 1959 im
Zusammenhang mit der Politik der Rassentrennung unter Apartheid skizzieren.
Old Location
Bis in die 1960er Jahre war die Old Location in Windhoek ein Wohngebiet der afrikanischen Be-
völkerung verschiedenster ethnischer Identitäten. Legalisiert durch den group areas act, eines Ge-
setzes das die Segregation der Bevölkerung nach Rassen vorsah, wurde bereits in den 1950er
Jahren die Räumung der Siedlung beschlossen. Die Afrikanische Bevölkerung sollte nach Katu-
tura, die sogenannten coloureds sollten nach Khomasdaal umgesiedelt werden. Diese Ent-
scheidung war einer von vielen Versuchen, die afrikanische Bevölkerung in das sozialräumliche
Schema der Rassentrennung zu zwingen. Die Geschichte der schwarzen Siedlungen in Windhoek
ist entsprechend eine Geschichte der Umsiedlungen und Vertreibungen, ein Prozess sich ver-
schärfender räumlicher Kontrolle. Es ist nicht bekannt, seit wann genau die Old Location be-
stand. Zum Zeitpunkt der Revolten gegen die Umsiedlung war die schwarze Bevölkerung Wind-
hoeks bereits viermal umgesiedelt worden. Die Umsiedlung in das 8 km von der Stadt entfernte
6
Township folgte der Logik der Apartheid, die einen cordon sanitaire als Abgrenzungszone zwi-
schen den Rassen vorsah.
Der Wille zur legalen und räumlichen Regulierung der urbanen Kontaktzone zwischen
der weissen und schwarzen Bevölkerung wird überdeutlich durch die blosse Anzahl der Gesetze
und Beschlüsse, die die südafrikanischen Regierung seit 1915 verabschiedete: allein 96 Anord-
nungen zur Kontrolle der urbanen afrikanischen Bevölkerung wurden in Kraft gesetzt (Pendleton
1994: 30). Zu den Kontrollmassnahmen gehörten Zwangsuntersuchungen von afrikanischen
Frauen, nächtliche Ausgangssperren, Passgesetze, Razzien in den Locations, das Verbot der
Nichtsesshaftigkeit. Diskurse über die Arbeitsscheue der afrikanischen Bevölkerung als soziale
Pest, die Immoralität der Nichtsesshaftigkeit, Ideen über die Degeneration durch Rassenmi-
schung, sowie die Metapher der Ansteckung bildeten die diskursive Basis für die Notwendigkeit
von Kontrolle und Rassentrennung.
Weder die Gesetze, noch die Erklärungen der südafrikanischen Regierung legen letztend-
lich offen, inwieweit die Ansätze zur totalen Regulierung, Kontrolle und Rassentrennung wirklich
durchgesetzt werden konnten. Wie effektiv auch immer die epistemische und physische Gewalt
der Regierung in ihrem Versuch atomisierte, kontrollierbare, registrierte und sesshafte koloniale
Untertanen zu produzieren war, die Effekte kolonialer Gewalt waren allzu wirklich und realisier-
ten einen Alptraum von Zwang und Kontrolle.4
Für die afrikanische Bevölkerung war entsprechend die Vertreibung aus der Old Location
nicht nur eine weitere Umsiedlung, sondern vielmehr ein weiterer Schritt zur Realisierung von
Apartheid. Während der Auseinandersetzungen der Delegierten der Old Location mit der Regie-
rung wurde das Sanitätsargument ebenso als Euphemismus entlarvt, wie die tatsächlichen Ab-
sichten der Regierung abgelehnt wurden. Mr. Mbaeva, einer der Delegierten der Old Location
teilt dem Magistrat mit:
This apartheid that you are coming here to impose, you are trying to impose on a place
that does not belong to you. Do you know that this place belongs to us and to us alone?
We will not condone apartheid. If we are moving to Katutura, we are condoning
apartheid (Heywood & Lau 1996: 23).
Am 10. Dezember 1959, nach langwierigen Verhandlungen zwischen der Regierung und den
Delegierten der Old Location, eskalierte die koloniale Gewalt: während einer Demonstration in
der Old Location gegen die Zwangsumsiedlung wurden 14 unbewaffnete Demonstranten er-
schossen. Die letztendliche Räumung und vollständige Umsiedlung der Bevölkerung wurde erst
1968 abgeschlossen.
4 Siehe hierzu Comaroff 2001.
7
Wie bereits erwähnt, sind Spuren der Siedlung heute kaum zu finden: das Gebiet ist kom-
plett überbaut, und ausser einer Plakette am noch existierenden alten Friedhof im heutigen
Hochland Park, sowie wenigen Photos sind kaum visuelle Erinnerungsstücke vorhanden. Seit der
Unabhängigkeit Namibias ist das Windhoek Shooting Teil der offiziellen Erinnerungspolitik
des jungen Staates. Dabei artikuliert die offizielle Erinnerungspolitik des neuen Nationalstaates
Ereignisse wie das des Widerstandes gegen die Umsiedlung im Zuge der Privilegierung einer
patriotischen Geschichtsinterpretation, die vor allem den heroischen Widerstand feiert. Vom
Gesichtspunkt gegenwärtiger Politik wird eine kohärente Erzählung des Widerstandes als narration
of the nation festgeschrieben, die bestimmte Ereignisse heraushebt und eine offizielle Geschichte
des Widerstandes schreibt. Diese postkolonial notwendige Aneignung namibischer Geschichte
lässt oft wenig Raum für alternative Interpretationen der Vergangenheit. Im Falle des Windhoek
Shootings erinnert man sich von offizieller Seite an heroes of resistance, während viele Namibier
sich an die Ermordung unbewaffneter Demonstranten erinnern mögen. Die Produktionen offi-
zieller Geschichtsinterpretationen sind an Effekte des Vergessens und der Vermeidung polyvo-
kaler, widersprüchlicher Versionen von Geschichte gekoppelt. Das heisst, obwohl die jetzt privi-
legierte Interpretation der Ereignisse von 1959 eine notwendige Re-interpretation namibischer
Geschichte darstellt, die eine identitätsstiftende Wirkung erzielen kann, werden kontroverse, we-
niger kohärente Formen der Erinnerung ausgeschlossen.
Eines dieser Formen der Erinnerung, aber auch der Produktion eines textlichen Monu-
mentes für die verlorene Gemeinschaft und ihre urbane Landschaft ist das omutandu für die Old
Location, zu dem ich jetzt komme.
Our very big etundu
For with a strong indigenous cultural life, foreign domination cannot be sure of its per-
petuation. At any moment, depending on internal and external factors determining the
evolution of the society in question, cultural resistance may take on new forms (political,
economic, armed) in order to fully contest foreign domination (Amilcar Cabral 1973:
62).
Das Preislied für die Old Location wurde von Frauen der otjiherero-sprachigen Gemeinschaft
zum Anlass der Beerdigung der ermordeten Demonstranten komponiert. Es ist eine kollektive
Kreation, die den Zielen der Apartheid Politik widerspricht und eine alternative Version afrikani-
scher Identität und Geschichte artikuliert.5 Bislang hat dieses kulturell spezifische Kunstwerk, das
5 Für eine ausführlichere Analyse des omutandu siehe Hoffmann 2005: 82 ff.
8
auf die performative und dichterische Tradition der omitandu basiert, weder in der Geschichts-
schreibung, noch in den Diskussionen über Erinnerungspolitik Beachtung gefunden. Interessan-
terweise haben neuere Forschungen von Dag Henrichsen ergeben, dass dieses Preislied nicht nur
während der Trauerfeierlichkeiten rezitiert wurde, sondern höchstwahrscheinlich ein wichtiger
Teil von den nächtlichen performances war, die nach den Ereignissen stattfanden. In diesen per-
formances wurden offensichtlich die dramatischen Ereignisse die Gemeinschaft der Old Location
erlebt hatte nachgespielt. Wir können als davon ausgehen, dass das Preislied Teil einer darstelleri-
schen Aneignung von Geschichte, sowie einer Form performativer Artikulationen von Wider-
stand gegen die Ziele der Apartheid war.
Bevor ich zum Preislied und seinen Inhalten komme, möchte ich noch erwähnen, dass
weder dieser Text, noch die nächtlichen performances, die für die Gemeinschaft sicherlich von
Bedeutung waren, gegenüber Forschern, die sich mit den Ereignissen beschäftigten erwähnt wur-
den. D.h. obwohl otjiherero-sprachige Zeitzeugen befragt wurden, und über ihre Erlebnisse wäh-
rend der Revolte erzählten, erwähnten sie die performances nicht. Ich denke, dieses Schweigen
über eine darstellerische Auseinandersetzung der Gemeinschaft mit ihrer Geschichte, weist auf
eine tiefe Kluft zwischen der wissenschaftlichen Historiographie (der westlichen Welt) und den
Genres der oralen Geschichtserzählungen hin.
Eines der Charakteristika der Preislieder ist, dass sie Geschichte niemals erzählen. Statt-
dessen werden Namen erwähnt, oder Metaphern geäussert, die Geschichte aktivieren, d.h. den
Zuhörer dazu anregen, sich zu erinnern. Ich möchte diese lose aneinander gefügten Metaphern
und Hinweise als Eingänge oder Knotenpunkte von Geschichten beschreiben, die die Zuhörer
dann auf eine Reise durch ein Netzwerk bekannter Geschichten, erinnerter Ereignisse und Ge-
nealogien führen. Die Namen, die in den Texten genannt werden, führen die Zuhörer zu Ge-
schichten, die sich die Zuhörer dann sozusagen selbst erzählen können müssen. Dabei ist jeder
der Zuhörer der Autor seiner eigenen Version der assoziativ aus dem Netzwerk der oralen Text-
kultur generierten Geschichte. Durch diese Art der exegetischen Aktivität wird viel Interpreta-
tionsspielraum gelassen, es ist deshalb nicht möglich einem Preislied eine einstimmige Interpreta-
tion zuzuordnen.
Eine weitere grundsätzliche Eigenschaft ist die Akkumulation von Versen, die aus ver-
schiedenen Zeiten und von verschiedenen Autoren/performern stammen. So kann also weder
eine einzelne Stimme identifiziert werden, noch ist das Entstehungsdatum der oft aus Fragmen-
ten anderer omitandu orchestrierten Lieder klar zu definieren. Autorenschaft scheint von wenig
Bedeutung zu sein, was zählt ist der vergängliche Moment der performance selbst. Ich werde jetzt
eine deutsche Übersetzung des (unvollständigen) Textes vorstellen, um danach auf einzelne Zei-
len genauer einzugehen:
9
Unser sehr grosses Etundu: Das verlassene Dorf von Rukungugirangombe Kapahona von
Ngarangua. Das grosse von Mutiro mit einem weissen Tuch ohne Läuse. Es ist hier, wo die Wai-
sen nicht weinen und die Witwen und Witwer nicht einsam sind. Das etundu von Tjiooko von
Naori bei den ovikerenge Steinen, wo die Hufe der Rinder keine Funken erzeugen. Beim Baum des
Hauzeu, die Familie des Omutaki clans, die Schafe von Muaheke. Der chief dem gesagt wurde, er
solle seinen Hut nicht knöpfen, denn wenn er das täte würde der Krieg verloren werden. &. Er
ging an Piratas Haus vorbei, mit dem Tuch von Hekera auf seinem Rücken, als er zum Baum von
Hauzeu ging, wo er starb. Er ist der Sohn von Zacharias Kukuri, oder Kamaituara, von den Scha-
fen von Adjii Kuzema. & der Bulle on Rukuma von Kahuiko, der grosse mit wassermelonen-
förmigen Flecken auf dem Bauch. Unser etundu, wo wir nahe beieinander lebten, wir alle. Mit
den Kindern von Kambunduava, aus der Stadt, und den Kindern aus Perekeres Stadt des Perl-
huhnes. Den Kindern von Nunuhe. Der Ort an dem wir zusammen lebten. Mit den Kindern von
Korota von Kauhinga, der mit dem stumpfen assegai, das nicht einmal einen Stoff schneiden
kann. Und den Kindern von Kakuuoko& den Kindern von Nangolo und den Kindern von
Ndemufayo, alle diese Leute, wo sie versammelt waren. Bei unserem vergifteten etundu, wo die
Greueltaten stattfanden. Wo wir gehasst wurden. Wo wir sagten: baut uns ein Zuhause hier, wir
werden nicht umziehen. Unser sehr grosses etundu.6
Das zentrale Motiv des omutandu ist die Idee der Location als etundu. Ein etundu ist ein
verlassenes compound, also ein verlassener Wohnort einer Familie, die dort mehrere Häuser hatte.
In dieser Weise wird die Old Location der Wohnort einer Gemeinschaft, die als Familie charakte-
risiert wird. Mit dem Motiv des etundu werden soziale Qualitäten des friedlichen Zusammenlebens
hervorgehoben, dazu gehört gegenseitige Anteilnahme und Sorge umeinander.
Die Geschichte des Ortes wird durch eine Akkumulation von Namen wachgerufen. Ich
möchte auf einige dieser Namen eingehen, um zu zeigen, wie viel Geschichte(n) die Nennung
eines Namens oder Ortes bergen kann. Eine wichtige Figur im Text ist Hauzeu, der mehrmals
auftaucht. Der Baum von Hauzeu, der ein signifikantes Element in allen Preisliedern über Wind-
hoek ist, ist ein heute noch bekannter historischer Ort. Hauzeu das bedeutet der Schwere - und
ist ein Preisname für Zacharias Kukuri, den dieser erst nach seinem Tode erhalten hat. Der Name
verweist auf die Umstände seines Todes in Windhoek. Zacharias Kukuri war einer von mehreren
Kriegsgefangenen, die von deutschen Soldaten nach Windhoek gebracht wurden. Die orale Ge-
schichte Herero erzählt dazu folgendes:
For he was the son of chief Kukuri and must die since Samuel Maherero had escaped to
Botswana. They said that if they kill him, then that could serve as a symbol that they had
6 Das omutandu wurde von Alexander Kaputu in Windhoek rezitiert, Übersetzung und Transkription der Aufnahme
stammen von Renathe Tjikundi.
10
exterminated the sovereignty of the Herero. (...) he was taken to a tree near the Whites
cemetery in Otjomuise [Name für Windhoek, A.H.], which is still here today. I can show
you his grave. He is still there until now, near the railway line to Aris: he is still there un-
til now. (...) when he was taken to the tree, the tree of Hauzeu, as you hear about it, it
was said: now you will be hanged to die. Heavily wounded as he was, he had a rope
around his neck and was hanged. However, his weight broke the rope. Then the Ger-
mans said he was innocent and had to be released. But he himself insisted to be hanged
again (...) (he said) I have come to see the children of Tjamuahas house, those left in
the camps of enslavement: to see them with my own eyes (...) this is why I have come:
take me up the tree. They did and he died. He lies at Hauzeus tree. He had given him-
self to be hanged (Heywood et al 1992: 115-116).7
Im Preislied für die Old Location taucht all das nicht auf: wir erfahren von einem Mann der zu
dem nach ihm benannten Baum geht um zu sterben. Allerdings kann sicher davon ausgegangen
werden, dass die Geschichte den Zuhörern bekannt war. Damit wird also durch die Nennung des
Namens von Zacharias an die Gefangenenlager in Windhoek und gleichzeitig an einen Mann
erinnert, der in all dem seine Würde bewahrt und seinen Tod letztlich selbst verfügte. Weder die
Soldaten, noch der Krieg werden direkt genannt. Gewaltsamer Tod, Gefangenenlager und Ver-
schleppung, die Geschichte kolonialer Gewalt, werden als bekannt vorausgesetzt und müssen von
den Zuhörenden selbst interpretiert werden. Der in diesem Text als signifikantes Moment der
Kolonialzeit in Windhoek interpretierte Mord an Kukuri wird zum historischen Ereignis, das
soziale Bedeutung für die Gemeinschaft der Herero in Windhoek eingeschrieben hat. Gleichzeitig
erzeugt der Hinweis auf den gewaltsamen Tod Kukuris die Retrospektive in die frühe Kolonial-
zeit im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1959. Die Vergangenheit des Ortes wird wie-
derbelebt und kreiert so einen bedeutenden Ort, der kollektiver Geschichte birgt. Gleichzeitig
verweist das omutandu auf eine Serialität kolonialer Gewalt, aber auch eine Kohärenz des Wider-
standes, an dessen Anfang Kukuris Tod steht. Was mit dem Tod Kukuris begann, endet zum
Zeitpunkt der erste performance des Liedes mit der Ermordung der Demonstranten in der Old
Location.
Für die Konstruktion einer historischen Landschaft ist weiterhin von Bedeutung, dass das
omutandu durch den Verweis auf Familien und deren Geschichte, die noch ferner in der Ver-
gangenheit liegen, auf die ich aber hier aus Zeitgründen nicht weiter eingehen kann, eine histori-
sche Tiefe und gleichzeitig eine Bindung der damaligen Bewohner zu ihrer vorkolonialen Ver-
gangenheit produziert. Damit wird, besonders im Falle dieses Preisliedes, der Lange Atem indi-
gener Geschichte artikuliert: der Rekurs auf vorkolonialer Geschichte kann als ein Verweis darauf
gelesen werden, dass man auf eine Vergangenheit vor der Kolonialzeit zurückblicken kann, und
sich deshalb auch in Zeiten extremer Unterdrückung nicht als das Produkt kolonialer Politik
7 Dieses Zitat ist ein Teil der Lebensgeschichten von Kukuri und seinem Sohn Zacharias, erzählt von Alexander
Kaputu 1985.
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sehen muss. Ausserdem werden in diesem omutandu, dass zum Teil aus Fragmenten anderer
Preislieder besteht Verbindungen zu anderen Orten hergestellt. Der Verweis auf Pereketes Stadt
des Perlhuhns beispielsweise meint Okahandja. So wird also eine zeit-räumliche Verbindung der
Old Location zu einem bereits etablierten Netz von Preisliedern und damit zu einer poetischen
Landschaft und ihren Bewohnern produziert.
Der Hinweis auf die historischen Umstände des Todes von Kukuri ist nicht die einzige
kodifizierte Form der Kritik an der 1959 virulenten kolonialen Gewalt gegen afrikanische Nami-
bier. Der Nachdruck, mit dem auf die friedliche Koexistenz der Mitglieder der multi-ethnischen
Gemeinschaft der Old Location kritisiert die Ziele der Rassentrennung. Dies wird besonders in
den folgenden Zeilen deutlich:
Die Kinder von Nangolo und die Kinder von Ndemufayo, alle diese Leute, wo sie ver-
sammelt waren. Unser vergiftetes etundu, wo die Greueltaten stattfanden. Wo wir sag-
ten: baut uns hier ein Zuhause, wir werden nicht umziehen. Unser sehr grosses etundu.
Die Nennung der Kinder, also der Nachkommen, von Nangolo DAmutengya, eines On-
dongwa Königs, von Mandume ya Ndemufayo, des letzten Kwanyama Königs, von Kakuuoko,
(das ist der Preisname für Jonker Afrikaner), des legendären Opponenten der Herero ist recht
untypisch für Herero Preislieder. In allen Preisliedern werden Genealogien miteinander verbun-
den, aber diese beschränken sich meist auf die Genealogien innerhalb der otjiherero-sprachigen
Gesellschaften. Soziale Identität ist damit grundsätzlich als nicht-individuell sondern abhängig
von einem Netzwerk von gegenseitigen Beziehungen gekennzeichnet, aus der sich einzelne zwar
durch besondere Charakteristika oder Taten hervorheben können, die sie aber dennoch letztlich
nicht verlassen werden. Diese Art der Artikulation von Identität als nicht atomisiert, also un-
trennbar in einem sozialen und genealogischen Netzwerk verankert ist grundsätzlich schwer mit
der kolonialen Forderung nach kontrollierbarer Individualisierung zu vereinbaren die zum Bei-
spiel anhand der Passgesetze deutlich wird.
Dieses omutandu, performt und komponiert zum Anlass der Trauer um die Opfer der Es-
kalation kolonialer Gewalt, scheint die die generischen Grenzen der omitandu zu sprengen. Die
tradierten Möglichkeiten und die enorme expressive Kraft von oral poetry wird genutzt um eine
Form des omutandu hervorzubringen, die dem Anlass Rechnung trägt. Mir ist kein weiteres Lied
bekannt, in dem so offen Protest geäussert wird.
Durch die Nennung bekannter Personen aus der Geschichte der multiethnischen Ge-
meinschaft wird, vielleicht absichtsvoll nostalgisch, eine Einheit der Gemeinschaft heraufbe-
schworen. Damit wird die Old Location, anders als zum Beispiel der Ort Okahandja, der als Ort
der Hererogeschichte erzählt wird, zu einem Ort interethnischer Gemeinschaft, also zu einer
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kollektiven Stadtlandschaft, die nicht von einer ethnischen Gruppe allein beansprucht werden
kann. Das Preislied betrauert das Ende einer multiethnischen Gemeinschaft und äussert damit
eine klare Absage an die Ziele der Apartheidspolitik. Nora Shimming-Chase drückt die Gefühle
nach Eskalation der Gewalt folgendermassen aus:
Wir hatten einen gemeinsamen Feind. Das Gefühl der Einheit war das wichtigste. Es
gab absolut keine Separation in diesem Moment, weil zu dieser Zeit der Befreiungs-
kampf sich gegen die südafrikanische Regierung und damit gegen jede Form der ethni-
schen Trennung richten musste. Aber auch schon vorher hatten die Leute in der Old
Location über ethnische Grenzen hinweg geheiratet.8
Lassen sie mich abschliessend auf die Unterschiede des Old Location omutandus zu anderen Preis-
liedern dieses Genres eingehen. Interessanterweise werden, obwohl das Lied zum Anlass der Be-
erdigung der Opfer komponiert wurde, diese nicht genannt. Während also die rezente nationale
Erinnerungspolitik in Namibia die Heldentaten der Widerständigen gedenkt, scheint es hier um
die Trauer für eine Gemeinschaft gegangen zu sein, die zu diesem Zeitpunkt verloren war. Das
heisst, obwohl es sich ganz klar um ein Preislied aus dem Genre der otjiherero-sprachigen oral
poetry handelt, werden die traditionellen Grenzen des Genres überschritten. Einerseits in dem
man die Opfer nicht nennt und des weiteren indem ethnische Grenzen überschritten werden und
Protest offen geäussert wird. Obwohl der Begriff Preislied das nicht besagt, sind diese oftmals
kritisch. Kritik, zum Beispiel bezüglich der Landverkäufe Samuel Mahereros, oder seines
Führungsstils, tauchen in mehreren Liedern auf. Solche Kritik wird aber normalerweise sehr ver-
schlüsselt artikuliert und lässt dem Zuhörer genügend Interpretationsspielraum um gegebenen-
falls etwas anderes verstehen zu können. In diesem Fall wird die Weigerung umzuziehen, zu-
sammen mit dem Verweis auf die Gräueltaten offen geäussert. Gleichzeitig wird auf genre-typi-
sche Weise der soziale Besitz einer (Stadt-)Landschaft artikuliert. Damit wird eine Poetik sozialen
Besitzes, oder sozialer Verbundenheit mit der Landschaft artikuliert: die Old Location gehört
ihren Bewohnern, weil deren Geschichte dort lokalisiert ist. Mit der poetischen Inbesitznahme
der Landschaft die gerade verloren wurde, wird innerhalb der Logik des Genres die Unrechtmäs-
sigkeit der Vertreibung artikuliert. Der Entwurf einer interethnischen Gemeinschaft produziert
ebenfalls einen diskursiven Gegenentwurf zur damaligen Politik. Die positive Unterstreichung
sozialer Identität als inter-dependent, also, als immer von der Existenz von sozialen Beziehungen
und Netzwerken abhängig, negiert die Forderung der kontrollierbaren Individualisierung vonsei-
ten des Kolonialstaates. Gleichzeitig entzieht sich der stark kodifizierte Text dem Verstehen Aus-
senstehender; damit werden sowohl Kontrolle und als auch Zensur ausgeschlossen. Das ist zwar
8 Aus einem unveröffentlichten Gespräch von Oliver Diepes mit Nora Shimming-Chase, aufgenommen in Wind-
hoek, 2000. Frau Shimming-Chase ist eine der Zeitzeuginnen der Revolte in der Old Location.
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einerseits nicht ungewöhnlich, da Preislieder immer stark chiffriert sind; allerdings ergibt sich
durch die genre-untypische Kombination des kodierten Textes zusammen mit klaren politischen
Forderungen eine neue Form eines politischen Preisliedes. Die anfangs erwähnten nächtlichen
performances, bei denen nach Augenzeugenberichten dieses Preislied rezitiert wurde geben dieser
Kombination eine besondere Bedeutung.
Wenn, wie Cabral schreibt, der Rekurs auf die eigene Kultur, im glücklichen Fall eine un-
erschöpfliche Ressource des Mutes und der moralischen Ermutigung sein kann, dann zählt diese
Komposition ganz sicher dazu. Ich betrachte das Preislied als Monument, weil es aus den vor-
handenen Genres eine neue Art von Gedenken produziert, eine kollektive Produktion ist und
einen Raum schafft - allerdings sprachlich und nicht bildlich der zur Erinnerung an die Ver-
gangenheit mahnt.
Warum also taucht das Preislied in der gegenwärtigen nationalen Erinnerung nicht auf?
Ich denke, dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Einerseits, lassen Preislieder durch ihre Form
endgültige Interpretationen nicht zu. Wenn, wie Karin Barber argumentiert, oral poetry den Zu-
hörern und nicht den performern gehört, weil diese bei jeder Darbietung zu ihrer eigenen Inter-
pretation kommen müssen, so ist diese offene Form für master narrations nicht geeignet. Falls also
ein Staat ein starkes Interesse an einer ganz bestimmten und klar definierten Erzählung histori-
scher Ereignisse hat, wird sein Interesse an Preisliedern gering sein. Ausserdem kann durch die
Form der Akkumulation verschiedener Verse und damit verschiedener performance- Ereignisse
und Autoren keine einzelne Stimme bzw. kein einzelner Autor identifiziert werden. Das gesagte
entzieht sich der Kontrolle und damit der Zensur. Von Bedeutung für das Verständnis des Aus-
schlusses spezifischer kultureller Produktionen ist auserdem die Trennung von diskursiven Räu-
men, die in der kolonialen Geschichte verankert ist. Hierzu gehört die Gewohnheit otjiherero-
sprachiger Namibier oral poetry zwar als identitätsstiftend und profund zu betrachten, sie aber
gleichzeitig meist als der europäischen Historiographie und deren dokumentarischer und das
heisst entweder schriftlicher oder bildlicher - Beweisbarkeit nachgeordnet anzusehen. So wurden
beispielsweise orale Geschichtsinterpretationen in der Sammelanklageschrift der Ovahererokläger
gegen den deutschen Staat nur dann angeführt, wenn sie zuvor von Historikern verschriftet wor-
den waren. Von daher ist es wenig erstaunlich, dass die zur Old Location befragten Zeitzeugen
weder die performances, die zum sozialen Überleben nach der Revolte sicher von grösster Be-
deutung waren und zudem orale Texte produziert haben, die die eigene Interpretation der Ereig-
nisse von 1959 innerhalb der Gemeinschaft (trotz Zensur) überliefern konnten, noch dieses omi-
tandu erwähnten.
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Das eigentümliche ist, dass damit in einem multiethnischen Staat, in dem vielleicht die
Mehrzahl der vorhandenen Kulturen nicht-bildliche Formen der Erinnerung pflegte, diese im
öffentlichen Raum wenig Platz finden.
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Anette Hoffmann
anette.hoffmann@gmx.de
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